6.

 

Jetzt schon warten Geschenke, doch der Dunst überm Strand,
 Ja, er birgt ein Geheimnis, das liegt auf der Hand.

 

Jackson Deveau lief vollkommen lautlos auf und ab. Das war das Erste, was Kate auffiel. Diese unglaubliche Stille. Seine Kleidungsstücke raschelten nicht und seine Schuhsohlen verursachten keinerlei Geräusche. Seine Augen waren eiskalt und so trostlos und tot, wie es bei einem Menschen kaum vorstellbar war. Sie setzte sich auf den einzigen guten Lehnstuhl und versuchte, den Schauer zu unterdrücken, der ihr kalt über den Rücken lief. Falls der Mann auch nur eine Spur von Sanftmut besaß, konnte sie nichts davon entdecken.

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich keinen verdammten Psychiater brauche, Jonas«, fauchte Jackson, ohne Kate anzusehen. »Schaff sie von hier fort. Glaubst du etwa, ich will, dass mich jemand so sieht?« Schweißperlen standen auf seiner Stirn und sein dunkles Haar klebte feucht in seinem Gesicht.

»Ich bin kein Psychiater, Mr. Deveau«, sagte Kate. »Ich bin sowohl mit Jonas als auch mit Matthew befreundet, das ist alles. Ich besitze eine Gabe und die beiden glauben, damit könnte Ihnen in irgendeiner Weise geholfen sein. Keiner von beiden hatte vor, Sie zu verärgern.«

»Hör auf zu knurren wie ein Neandertaler, Jackson, und lass sie ausreden«, sagte Matthew. »Man könnte meinen, du besäßest keinen Funken Anstand.«

»Wie seltsam, dass du ausgerechnet diesen Begriff wählst, denn genau das haben meine Schwestern über dich gesagt, Matthew«, warf Kate ein. »Hatten Sie vielleicht einen außerordentlich beunruhigenden Traum, Mr. Deveau?«

Jackson wirbelte herum und pirschte sich mit den Bewegungen einer großen Raubkatze vom anderen Ende des Raumes an sie heran. »Was haben Ihnen die beiden über mich erzählt? Dass ich verrückt bin? Dass ich Alpträume habe und nicht schlafen kann? Was zum Teufel wollen Sie von mir hören?«

Kate fiel auf, dass sich Jonas und Matt beide dicht neben ihr aufgebaut hatten, um sie jederzeit zu verteidigen, falls es notwendig werden sollte. Trotz des Schauers, den ihr die Furcht über den Rücken jagte, blickte sie ruhig zu dem Deputy auf. »Sie haben gar nichts gesagt. Sie haben mir so gut wie nichts über Sie erzählt. Aber die meisten Kinder in der Stadt scheinen einen kollektiven Alptraum gehabt zu haben. Bisher hat sich keiner der Erwachsenen dazu bekannt, aber überall, wo wir heute gewesen sind, herrschte eine unnatürliche Anspannung. Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir etwas darüber erzählen. Von den Kindern erhalte ich nur wirre Berichte und bisher hat kein Erwachsener den Mut aufgebracht zuzugeben, ebenfalls von einem Alptraum geplagt worden zu sein.«

Jackson fuhr sich mit beiden Händen durch das dunkle Haar und unter seinem dünnen, engen T-Shirt spielten die Muskeln. Er sah von Jonas zu Matthew, als erwartete er eine Falle. »Kinder hatten Alpträume?«

Kate nickte. »Letzte Nacht, als sich plötzlich ein undurchdringlicher Nebel gebildet hat, ist etwas äußerst Bizarres passiert. Heute Morgen waren viele Kinder ganz durcheinander und in Tränen aufgelöst und einige waren traumatisiert von einem Traum, den sie anscheinend alle miteinander hatten.«

»Worum ging es in dem Traum?« Zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatte, setzte sich Jackson, aber er presste seine Hände immer noch auf seinen Kopf, als hätte er furchtbare Kopfschmerzen.

»Sie haben einen Knochenmann in einem langen Mantel und mit einem alten Hut beschrieben.«

Jackson zögerte, da es ihm offensichtlich immer noch widerstrebte, sein Problem mit ihr zu erörtern. Er sah von Jonas zu Matt und kapitulierte schließlich. »Der Mantel und der Hut waren altmodisch, vielleicht aus schwerem Wollstoff. Er hatte kein wirkliches Gesicht, nur weißgraue Knochen. Eine Frau und ein Baby und ein Schäfer kamen auch vor. Oder zumindest jemand mit einem Schäferstab.« Er rieb sich mit einer Hand das Gesicht. »Ich mache Jagd auf echte Menschen, auf echte Bedrohungen, aber dieses Ding, das kam von einem Ort, an den ich nicht gehen kann, und ich spüre, dass alle in Gefahr sind.« Er sah Kate an. »Noch beunruhigender als der Traum selbst war das Gefühl, das er bei mir hinterlassen hat. Die Gefahr war real. Ich weiß, das klingt verrückt, aber verdammt noch mal, die Gefahr war real!«

Matt erstarrte. Es hatte nie allzu viel gegeben, wovor sich Jackson Deveau fürchtete, und seine eigene Sterblichkeit gehörte gewiss nicht dazu, und doch schien er von diesem Alptraum tief erschüttert zu sein.

»Dann haben Sie es also auch gespürt. Dass die Bedrohung real ist«, sagte Kate und beugte sich zu Jackson vor.

Jackson wich zurück. Matt hatte vergessen, Kate zu sagen, dass der Deputy vor Körperkontakt zurückschreckte. »Ich weiß, dass es so ist.« Er sah Jonas und Matt an. »Ihr beide glaubt wahrscheinlich, ich sei komplett übergeschnappt, aber ich schwöre euch, was auch immer dieses Ding in meinem Traum war, es hat es darauf abgesehen, unter uns zu wandeln.«

»Er benutzt den Nebel«, erklärte Kate. Hier hatte sie es nicht mit einem Kind zu tun, das sich mit Weihnachtsgeschichten und einem liebevollen Lächeln beschwichtigen ließ. Sie hatte einen erwachsenen Mann vor sich, einen Krieger, und was er brauchte, war die nackte Wahrheit. Nichts anderes würde er akzeptieren können. Er brauchte Tatsachen, die ihm bestätigten, dass er nicht den Verstand verlor. »Was auch immer es oder er ist, er gewinnt an Kraft. Ich glaube, das Erdbeben hat ein Siegel aufgebrochen, das ihn tief im Innern der Erde unter Verschluss gehalten hatte. Matthew und ich haben im Keller der alten Mühle eine zerbrochene Abdeckung gefunden. Etwas ist in Form von widerwärtigem Dampf aus einem Spalt herausgekommen. Ich habe denselben Gestank im Nebel gerochen.« Sie sah Jackson fest in die Augen. »Falls Sie meinen, den Verstand zu verlieren, trifft das auch auf mich zu. Und auf Matthew. Und auf sämtliche Kinder von Sea Haven.«

In dem Moment hörte Matthew wieder den magischen Klang, der einer aufgewühlten Seele absoluten Frieden brachte. Er konnte ihn mittlerweile erkennen und nahm die Energie wahr, die durch den Raum wogte. Sie ging von Kate aus und bewegte sich zu dem Menschen hin, mit dem sie sprach. Er nahm aber auch wahr, dass sie die negative Energie in sich aufsog, sie in ihrem Innern aufnahm und sie von ihrem eigentlichen Opfer fernhielt.

»Das erleichtert mich wirklich. Ich dachte, diesmal verliere ich tatsächlich den Verstand. Ich habe manchmal Alpträume und ich kann mit ihnen umgehen, aber dieser Traum letzte Nacht kam geradewegs aus einem Horrorfilm.« Jackson schüttelte den Kopf. »Ich werde also doch nicht in eine Anstalt gesperrt.«

»Du bist der Einzige, der jemals so denkt«, sagte Jonas mit ruhiger Stimme. »Fällt deinen Schwestern etwas dazu ein, Kate? Das fällt eher in euren Bereich als in unseren.« Er wies mit dem Kopf auf die beiden anderen Ranger. »Wir können eure Soldaten sein, aber ihr werdet uns Anhaltspunkte geben und uns in die richtige Richtung weisen müssen.«

Kate lehnte sich auf dem Stuhl zurück und in ihrer Körperhaltung drückte sich Erschöpfung aus. »Wir arbeiten daran. Abbey, Sarah und Damon haben sich heute Morgen die Tagebücher vorgenommen. Wir werden den Eintrag finden. Dann haben wir zumindest einen Anhaltspunkt.«

»Mir ist aufgefallen, dass du Hannah nicht erwähnt hast«, bemerkte Jonas. Seine Stimme klang herausfordernd. »Ist sie krank? Ist es das?« Als Kate nicht antwortete, fluchte Jonas. »Verdammt noch mal, Kate, wenn sie krank ist, dann bist du es mir schuldig, mir zu sagen, was mit ihr los ist. Es stimmt doch etwas nicht mit ihr.«

»Mit ihr hat schon immer etwas nicht gestimmt, Jonas. Du hast es nur bisher nie bemerkt.« Kate verschränkte die Arme. »Ich lasse mich von dir nicht so weit einschüchtern, dass ich dir etwas erzähle, was Hannahs Privatangelegenheit ist. Frag sie selbst.«

Jonas fluchte erneut und stürmte hinaus. Kate verdrehte die Augen. »Mit zunehmendem Alter ist er nicht gerade milder geworden.«

»Komm, Kate, wir fahren jetzt zu mir und essen dort zu Abend. Ich kann gut kochen.« Matt streckte eine Hand aus und zog sie von ihrem Stuhl hoch. »Ich glaube, das ist der einzige Zufluchtsort, der uns noch geblieben ist.«

»Ich sollte nach Hause gehen und den anderen helfen.«

Jackson erhob sich jetzt ebenfalls. »Sie haben erreicht, dass es mir wieder besser geht. Wie haben Sie das angestellt?«

Kate lächelte ihn an und reichte ihm die Hand. »Es war mir ein Vergnügen, Sie endlich kennen zu lernen, Mr. Deveau. Jonas und Matthew halten beide so viel von Ihnen.«

Im ersten Moment zögerte er, doch dann nahm er ihre Hand. »Bitte, nennen Sie mich Jackson.«

Kate spürte seine erdrückende Last durch ihren Arm aufsteigen. Es fiel ihr schwer, ihn weiterhin anzulächeln, während sie das grüblerische Dunkel in seinem Innern wahrnahm. Sie war nicht Libby. Sie konnte die Kranken nicht heilen und ihr Eindruck war ohnehin, dass Jackson Deveau nicht körperlich krank war, sondern seelisch. »Ich wünsche Ihnen Frieden, Jackson«, murmelte sie leise und ließ sich von Matthew aus dem Haus und in die kühle Luft hinausziehen.

»Er hat keinen Weihnachtsbaum. In seinem Haus fehlt es an jedem festlichen Schmuck«, sagte sie betrübt. »Wenn jemand Weihnachten wirklich braucht, dann ist es dieser Mann.«

»Er wird mit seinen Problemen fertig werden, Kate«, beteuerte ihr Matthew. »Er hat seine Dämonen, aber unter dem Strich wird sein Leben von Ehrgefühl und Integrität bestimmt. Er fürchtet sich nur davor, gegen seinen Willen Dinge zu tun, die er niemals tun wird, und genau wie Jonas würde auch er dieses Städtchen und seine Bewohner bis zum letzten Atemzug verteidigen.«

»Ich bin froh, dass ihr ihn nach Sea Haven mitgebracht habt. Du hattest recht mit dem, was du über die Ortschaft gesagt hast. Die Leute hier haben eine gewisse Art an sich - sie nehmen Außenseiter mit offenen Armen auf.« Nach dem eiskalten Wind, der vom Meer her wehte, war es in seinem Wagen angenehm warm.

»Haben mich deine Schwestern wirklich als einen Neandertaler bezeichnet?«

Sie lachte schallend. »Ja, das schon, aber es war nett gemeint. Ich glaube, sie konnten sich mühelos ausmalen, dass du dir mit den Fäusten auf die Brust trommelst und deine Frau über die Schulter wirfst, um sie an einen Ort zu schleppen, an dem ihr ungestört seid.«

Er nickte. »Das kann ich verstehen. Diesen Drang verspüre ich tatsächlich. Sogar ziemlich oft.« Er sah sie an. Seine Hand lag immer noch auf dem Schlüssel. »Ich möchte dich wirklich zu mir nach Hause mitnehmen, Kate.« Er gab ihr einen Herzschlag Zeit, bevor er den Motor anließ.

»Werden deine Brüder dort sein? Ich glaube nämlich, ehrlich gesagt, heute bin ich zu müde, um mich von ihnen auslachen zu lassen. Wahrscheinlich breche ich dann in Tränen aus.«

Er presste sich eine Hand aufs Herz. »Sag so was nicht. Ich glaube, lieber ließe ich mich erschießen, als dich weinen zu sehen. Und meine Brüder lachen dich nicht aus.« Er warf einen Seitenblick auf sie, weil er sehen wollte, ob sie es ernst meinte.

»Sie lachen mich immer aus«, sagte sie. »Jedes Mal, wenn du in der Nähe bist, tue ich die idiotischsten Dinge. Wie gerade erst kürzlich, als du diesen Unfall hattest und versucht hast, aus dem Pick-up auszusteigen. Da musste ich natürlich viel zu dicht an der Tür stehen.« Sie schaute auf ihre Hände hinunter. »Danny wäre vor Lachen fast aus dem Wagen gefallen.«

»Mich hat er ausgelacht, Katie, aber dich doch nicht. Meine ganze Familie weiß, was ich für dich empfinde, und sie finden es alle irrsinnig komisch, dass ich mich jedes Mal, wenn du in der Nähe bist, absolut lächerlich mache.«

Kate saß ganz still da und hielt ihren Blick starr auf sein Gesicht gerichtet. »Was empfindest du denn für mich?«

»Das habe ich dir doch verdammt deutlich gezeigt, Kate.«

»Ach ja? Ich weiß nur, dass du dich körperlich zu mir hingezogen fühlst.«

Er schnaubte höhnisch. »So nennst du das also? Ich habe keine Nacht mehr gut geschlafen, seit ich dich gesehen habe, als du fünfzehn Jahre alt warst. Das gebe ich nur äußerst ungern zu. Ich hätte dich nicht anschauen sollen, aber ich habe es getan und ich wusste genau, dass du die Richtige für mich bist. Ich habe öfter von dir geträumt und mich mehr Phantasien über dich hingegeben als irgendein Mann jemals eingestehen sollte.« Er fuhr in die Einfahrt seines Hofs und schaltete den Motor aus, bevor er sie ansah. »Verdammt noch mal, Kate, wenn du das nicht gewusst hast, dann bist du der einzige Mensch in dieser Stadt, der es nicht weiß. Jonas hat mich gestern Abend gefragt, ob ich dir auflauere.«

»So etwas täte er nicht. Du bist sein Freund. Das muss ein Scherz gewesen sein.«

»Er hatte die Hand auf seiner Waffe liegen. Ich fürchte, es war kein Scherz. Und jetzt bist du hier und wir sitzen ganz allein vor meinem Haus. Kommst du mit mir rein?«

»Sollte ich mich jetzt fürchten?«

»Meine Phantasien könnten dich vielleicht schon erschrecken.«

»Ach ja?« Kate stieg geschmeidig aus dem Wagen. Der Wind peitschte ihr Haar und zog an ihren Kleidungsstücken. »Wenn du die Wahrheit wissen willst – ich bin eher neugierig geworden.«

Sein ganzer Körper reagierte auf ihren sinnlichen Tonfall. Vielleicht meinte sie es ja gar nicht so, wie es klang, aber er würde ihre Worte als Aufforderung auffassen, sie in jeder Form zu lieben, in der ein Mann eine Frau lieben kann.

Kate lächelte in sich hinein, als sie die Stufen zu seinem Haus hinaufstieg. Es lag auf den Klippen über dem Meer und die umlaufende Veranda bot einen Blick in alle Richtungen. Das Haus war offensichtlich für einen Mann von Matts Größe gebaut. Die hohen Decken waren gewölbt und es gab wenige Wände, daher wirkte das Haus enorm geräumig. Die Zimmer gingen ineinander über und die Möbelstücke entsprachen dem Stil des Hauses, lässig angeordnet, groß und prall gepolstert, damit die Dimensionen stimmten.

»Es ist wunderschön, Matthew. Ich finde es phantastisch, all diese Erkerfenster und die Alkoven und dass alles so geräumig ist. Hast du das Haus entworfen?«

Er strahlte vor Freude. »Ja, ich wollte ein Haus, in dem ich mich tagein tagaus wohlfühle. Ich brauche Platz. Sogar die Türen sind breiter und höher als in anderen Häusern, damit ich nicht ständig das Gefühl habe, den Kopf einziehen zu müssen.«

»Ich liebe freiliegende Dachbalken. Und der Kamin aus Felsgestein ist wunderbar. Ziemlich genau das hatte ich mir für mein eigenes Haus vorgestellt. Oder zumindest etwas ganz Ähnliches. Die Dachbalken und der Kamin in der Mühle begeistern mich. Es wirkt alles so, als gehörte es ganz selbstverständlich dorthin.« Sie drehte sich um und lächelte ihn an. »Wir haben wirklich einen ähnlichen Geschmack.«

Sein Herz schlug einen ganz seltsamen Purzelbaum in seiner Brust. Er umfasste die Türkante. »Das glaube ich auch. Es sollte mir leicht fallen, dir einen Entwurf vorzulegen, in den du dich wirklich verliebst.« Er sagte die Worte mit Bedacht.

Kate blieb erstarrt stehen, wandte den Kopf zu ihm um und sah ihn an. Es war eine anmutige und elegante Bewegung. So typisch für Kate. Ihr Anblick erfüllte ihn mit schmerzlicher Sehnsucht. Röte stieg in ihr Gesicht auf. Ihr Blick wanderte von ihm zu dem hohen Weihnachtsbaum in seinem Wohnzimmer, eine besonders schöne Silbertanne, die mit Lichtern und nur wenigen Ornamenten geschmückt war. »Hast du deinen Baum selbst aufgestellt?«

»Ich habe ihn ausgesucht und die Lichter aufgehängt. Mom hat darauf bestanden, dass ich ihn mit Schmuck behänge. Sie hat gesagt, ich müsste mir ein Thema ausdenken und dann den Schmuck besorgen, aber ich habe einfach nur ausgesucht, was mir gefallen hat.«

Kate ging um den Baum herum. Eine der Verzierungen war ein Haus, das ein ortsansässiger Künstler aus Holz geschnitzt hatte. Erstaunt und voller Freude stellte sie fest, dass es sich um ihr Haus auf den Klippen handelte. Sie äußerte sich nicht dazu, aber sie hoffte, es hieß, dass er an sie gedacht hatte, als er diese Miniaturausgabe ihres Hauses als Baumschmuck gekauft hatte.

»Dieses Zimmer ist mir das liebste. Hier verbringe ich viel Zeit. Mein Büro ist gleich dort drüben und ich habe eine große Bibliothek. Jedenfalls bezeichne ich diesen Raum als Bibliothek. Danny und Jonas nennen ihn meine Höhle.« Er grinste sie an. »Sie haben mich überredet, einen Billardtisch aufzustellen.«

Kate lachte. »Ja, natürlich, das sieht ihnen ähnlich. Ich wette, sie hatten ihre liebe Not, dich rumzukriegen.«

Matt hob eilig ein paar Hemden auf, die er in der ersten Wochenhälfte achtlos hingeworfen hatte. Auf dem Couchtisch lagen eine alte Pizzaschachtel und ein leeres Päckchen Doughnuts neben einer halb vollen Kaffeetasse.

Kate grinste ihn an. »Wie ich sehe, bist du ein Freund von Biokost.«

»Ich koche wirklich gern. Früher habe ich ständig für die Männer in meiner Einheit gekocht.« Er öffnete eine Tür und warf seine Hemden hinein, ohne darauf zu achten, wo sie landeten. Dann schloss er die Tür hastig und sammelte die leeren Kartons und die Kaffeetasse ein. »In der letzten Zeit war ich nicht allzu oft zu Hause. Dad hat einen großen Auftrag angenommen und wir haben alle mitgearbeitet, damit er rechtzeitig fertig wird.«

»Matthew.« Kate legte ihre Hand leicht auf seinen Arm. »Bist du nervös?«

Er stand da und sah in ihr Gesicht hinunter, das sie ihm zugewandt hatte. In ihre riesengroßen sanften Augen. Auf ihren verführerischen Mund. Hätte sie noch schöner sein können? »Ja, zum Teufel, ich bin nervös. Ich weiß noch nicht mal, was eine Frau wie du mit einem Mann wie mir im selben Haus zu suchen hat.«

»Eine Frau wie ich?« Sie wirkte echt und ehrlich verblüfft.

Matt stöhnte. »Jetzt hör bloß auf, Kate. Willst du mir etwa sagen, du hättest nicht gewusst, dass ich schon seit Jahren wild nach dir bin? Ich kann noch nicht mal meinen Spaß mit einer anderen Frau haben. Ich habe es immer wieder versucht und bin mit zahlreichen Frauen ausgegangen. Aber nach der ersten Verabredung wusste ich immer, dass daraus nichts werden kann.«

»Du bist wild nach mir?«, wiederholte sie fassungslos.

Er warf die Kartons aufs Sofa und zog sie in seine Arme. Grob. Besitzergreifend. Wie ein Ranger, der es gewohnt ist, zu befehlen. »In deiner Gegenwart kann ich keinen klaren Gedanken fassen.«

Jedes Denken war ausgeschlossen, als sein Mund glühend und gierig von ihren Lippen Besitz ergriff. Ihr Körper verschmolz mit seinem, ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Finger streiften seinen Nacken in einer intimen Geste und schlichen sich in sein Haar, während sie seiner rasenden Gier mit ihrem eigenen Verlangen antwortete.

Er brachte es nicht über sich, sie zu küssen, ohne ihre verführerische zarte Haut zu berühren. Wie von selbst glitten seine Hände unter ihre Bluse und bewegten sich auf der zarten Haut nach oben. Allein schon diese kleinen Berührungen bereiteten ihm eine Lust, die fast an Schmerz grenzte. Er erschauerte und seine Hand zitterte tatsächlich, als seine Fingerkuppen über ihre Rippen nach oben glitten, bis seine Handfläche ihre Brust streifte. Sein Körper spielte verrückt, das Herz schlug heftig in seiner Brust und seine Jeans wurde unangenehm eng.

»Wirst du mich zurückhalten, Kate? Wenigstens einer von uns beiden sollte wissen, was wir tun.« Er wollte ihr gegenüber fair sein. Sie war erschöpft und konnte offensichtlich nicht klar denken, denn sie schmiegte ihre Brust an seine Hand, presste sich enger an ihn und rieb ihren Körper an seinem. Aus ihrer Kehle drangen zarte, stöhnende Laute, die ihn restlos um den Verstand brachten. Ihre Lippen lächelten unter seinem Ansturm. »Ich weiß genau, was ich tue, Matthew. Du bist hier derjenige, der seine Absichten im Unklaren lässt.« Ihre Hände sanken auf die Knöpfe ihrer Bluse.

In seinen Ohren setzte ein seltsames Tosen ein. Jahrelang hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Kate Drake war bei ihm zu Hause. In seinen Armen. Kates Körper ließ seine Erkundungen zu. Um seine Gier nach ihr zu stillen würde ein ganzes Leben erforderlich sein. Und noch mehr als das. Noch viel mehr. Ihre Bluse sprang auf und entblößte die sahnigen Rundungen ihrer Brüste. Weiße Spitze schmiegte sich liebevoll an ihre Haut.

Matt sah gebannt auf ihren Körper hinunter und war wie hypnotisiert vom Anblick seiner großen Hand, die auf ihrer Brust lag, von seinem Daumen, der durch die weiße Spitze ihre Brustwarze streichelte. Einen Moment lang schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er sich das alles nur einbildete. Kate Drake. Sein Weihnachtsgeschenk. Er senkte seinen Kopf auf ihre Brust und sein Mund schloss sich um zartes Fleisch und Spitze. Seine Zunge neckte sie und tanzte über ihre Brustwarze, während seine Arme sie enger umschlangen.

Das abrupte laute Hämmern an der Haustür kam gänzlich unerwartet. Kate stieß einen spitzen kleinen Schrei aus und er spürte, wie ihr Herz unter der Haut einen furchtsamen Satz machte.

Matt hob den Kopf und seine grauen Augen wirkten wie das reinste Silber, als eine Mischung aus Wut und Verlangen darin schwelte. »Mach dir keine Sorgen, Katie.« Er zog die Ränder ihrer Bluse zusammen. Warum konnte die Welt sie nicht eine verfluchte Stunde lang in Ruhe lassen? War das etwa zu viel verlangt?

Kate knöpfte ihre Bluse zu und versuchte ihr Haar mit den Fingern zu kämmen. Er umfasste ihr Handgelenk und führte ihre Hand an seine Lippen. »Du siehst wunderschön aus. Wer auch immer es ist, ich schicke ihn fort.«

Sie blieb mitten in seinem Wohnzimmer stehen und wartete, während er die Tür aufriss. Draußen stand der Sheriff, die Faust zum Angriff geballt. »Jonas, allmählich glaube ich, dass du unsere Freundschaft aufs Spiel setzen willst«, begrüßte Matt ihn finster.

Jonas bahnte sich unbeirrt einen Weg um ihn herum. »Komm mit raus und sieh dir das an.« Seine Stimme war grimmig. Er stolzierte zielstrebig durchs Haus und stieß die Türen auf, die auf die Veranda mit Blick aufs Meer führten. »Was zum Teufel geht hier vor, Kate?«

Der Nebel wirbelte um das Haus herum wie ein Lebewesen. Der Dunst war dunkelgrau und trostlos und so dick, dass er schon fast ölig wirkte. Er kroch an den Mauern hinauf und umkreiste den Schornstein. Jonas blickte finster zum Nebel auf. »In diesem Nebel kann keiner mehr fahren. In der ganzen Stadt kommt es zu Autounfällen. Deine Schwester Elle hat angerufen. Sie ist in der Karibik, und trotzdem hatte sie genau denselben Traum wie Jackson und die Kinder. Wie konnte sie denselben Traum haben? Sie lässt dir ausrichten, die Symbole hätten eine Bedeutung. Als ich sie gefragt habe, was sie bedeuten, hat sie gesagt, du wüsstest es.«

Beide Männer sahen Kate an. Sie zögerte und versuchte sich zu erinnern, aber nichts schien ihr von großer Bedeutung zu sein. »Auf dem Siegel waren Symbole, aber das einzig Wichtige, was ich lesen konnte, war, dass die Abdeckplatte mit einem Zauber verschlossen wurde, um etwas unter der Erde einzusperren. Ich werde Elle anrufen und sie bitten, mir Genaueres zu sagen. Ist sie schon auf dem Heimweg? Sie wollte versuchen, über Weihnachten nach Hause zu kommen.«

»Sie hat gesagt, sie würde am späten Abend fliegen.« Jonas starrte die dichte graue Dunstschicht finster an. »Der schlimmste Nebel scheint sich genau hier zu ballen. Um dein Haus herum ist er noch viel dichter als überall sonst, Matt. Bald werden die ersten Menschen sterben, wenn wir nicht dahinterkommen, was hier vorgeht. Wenn wir Glück haben, sind die meisten Leute an den Straßenrand gefahren, um abzuwarten, bis das Schlimmste vorüber ist. Die Unfälle, zu denen es bisher gekommen ist, waren nicht schlimm. Aber bei diesem Nebel wäre es ein Leichtes, über den Rand der Klippen zu fahren. Wir haben die Rundfunksender gebeten, alle vor den Risiken zu warnen.«

»Ich vermute, du hast bei der Wetterwarte angerufen und die Meteorologen haben dir gesagt, dieser Nebel sei unnatürlich«, sagte Matt mit einem leisen Seufzen. Das Übernatürliche fiel nicht in seinen Fachbereich, aber er hatte das Gefühl, auf die Schnelle sehr viel mehr darüber lernen zu müssen. Irgendwie hatte er gehofft, all das würde sich von allein erledigen. Stattdessen hatte sich der Nebel eng um sein Haus geschlungen. Er warf einen Blick auf Kate. Sie stand ganz still da, hatte sich eine Hand auf die Kehle geschlagen und starrte in den dunkelgrauen Dunst hinaus. Auf ihrem Gesicht stand Furcht.

In seiner Magengrube schwoll die Wut an, nicht lodernd und sengend, sondern eiskalt und klar, gefährlich und todbringend, ein Gefühl, das er von früheren Kampfeinsätzen kannte. Matthew packte Kate an den Schultern und zog sie fort, fort von der Veranda und in die Sicherheit des Hauses. »Hat Sarah gesagt, ob sie schon etwas in den Tagebüchern gefunden haben, Jonas? Sie haben sie sich alle vorgenommen, weil sie hoffen, dort eine Erklärung zu finden.«

Jonas schüttelte den Kopf. »Sarah hat gesagt, sie hat keinen Schimmer, was hier vorgeht, aber sie meinte, wenn sich sämtliche Schwestern darauf konzentrieren, könnten sie es schaffen, den Nebel wieder aufs Meer hinauszutreiben, damit uns mehr Zeit bleibt, um dahinterzukommen, was hier überhaupt los ist.«

Matts Hände schlossen sich fester um Kates Schultern. »Ich möchte nicht, dass du es noch einmal tust, Katie. Ich glaube, damit erbost du es nur noch mehr und es schlägt wieder zurück. Es richtet sich direkt gegen dich. Weshalb sonst wäre es uns bis zu meinem Haus gefolgt und hier geblieben?« Er konnte die Gefühle, die der Nebel aussandte, nicht in Worte fassen, aber es ging etwas so Finsteres und Hässliches davon aus, das für ihn nach erbarmungsloser Feindseligkeit aussah. Er wollte unter gar keinen Umständen, dass Kate damit in Berührung kam.

»Wir dürfen kein Risiko eingehen, Matthew«, sagte Kate mit bebender Stimme. Sie presste ihre Lippen zusammen. Instinktiv wich sie näher zu Matt zurück, als wollte sie bei ihm Schutz suchen. »Jonas hat gesagt, es sei bereits zu Verkehrsunfällen gekommen.«

Matt konnte ihre Abneigung spüren. Was auch immer im Nebel war, es hatte an Kraft und Intensität gewonnen. In der vorangegangenen Nacht war es ein gespenstisches Ärgernis gewesen; jetzt wirkte es aggressiver und bedrohlicher.

»Der Nebel ist durch die Stadt gefegt, Kate, sowie ihr beide Jacksons Haus verlassen hattet«, erklärte Jonas. »Leute sind aus ihren Häusern gekommen und haben dagestanden und sich das angesehen. Im Büro des Sheriffs sind weit über hundert Anrufe eingegangen. Als sich der Dunst zurückgezogen hatte, ist eine gewaltige Schweinerei sichtbar geworden. Überall sind Geschenke, die die Leute draußen gelassen hatten, aber auch alle möglichen Gegenstände wie Fahrräder, Geländefahrzeuge bis hin zu Gartenmöbeln, zertrümmert und mit Unrat aus dem Meer überzogen worden – Sand, Riementang, Treibholz, zerbrochene Muschelschalen, alles, was man sich nur denken kann. Sogar Krebse sind da herumgekrochen.« Jonas stieß den Hut auf seinem Kopf zurück und sah Kate fest ins Gesicht. »Der schlimmste Schaden ist auf dem Hautplatz entstanden. Die Figuren der Heiligen Drei Könige sind nahezu zerstört worden und die Geschenke, die sie mit sich trugen, sind zermalmt und ins Gras gestampft worden. Um die Hälse, die Handgelenke und die Knöchel der Figuren war Riementang geschlungen. Es sah abartig und widerlich aus und der Anblick hat allen solche Angst eingejagt, dass die Leute im Ausschuss um die Sicherheit der Männer besorgt sind, die beim Umzug die Heiligen Drei Könige spielen. Glaubst du, das war eine Warnung?«

Kate rieb ihre pochenden Schläfen. Sie war ohnehin schon so müde. Sie fühlte sich ausgelaugt und wollte sich einfach nur für ein paar Stunden hinlegen. »Ich weiß es ehrlich nicht, Jonas, aber die Destruktivität dieser Wesenheit steigert sich erschreckend schnell.«

»Verdammt noch mal, Kate, was zum Teufel könnte in dem Nebel lebendig sein?«, platzte Matt heraus, der das Ding am liebsten erwürgt hätte. »Ich will nicht, dass du auch nur in die Nähe von diesem Zeug kommst. Warum musst ausgerechnet du diejenige sein, die den Kampf dagegen aufnimmt?«

»Wegen meiner Stimme. Die anderen können ihre Energien durch mich leiten. Und Hannah kann den Wind herbeirufen, um es wieder aufs Meer zurückzutreiben.«

Damit wollte er nichts zu tun haben. Es klang nach Hexerei und Zauberformeln und Dingen, die er im Kino sah, aber nicht im wahren Leben.

Matt massierte langsam Kates Nacken, um ihr einen Teil der Anspannung zu nehmen. »Katie, warum sollte dieses Ding ausgerechnet Geschenke zertrümmern? Wenn es in der Lage ist, Dinge zu zerstören und Gegenstände wie die Adventskränze vom Fleck zu bewegen, wie, wieso hat es dann eine so alberne Darbietung nötig? Wieso stört es sich an den Geschenken? Welche Bedeutung könnte das haben?«

Jonas folgte ihnen zu der gläsernen Schiebetür. »Das ist eine gute Frage. Ist das alles, wozu es fähig ist? Als die ersten Anrufe kamen, dachte ich, hier hätten wir es mit Jugendlichen und mit kindischen Streichen zu tun. Das Zertrümmern von Geschenken und Türschmuck und das Zurücklassen von toten Fischen sind relativ harmlose Formen von Vandalismus, die Jugendlichen durchaus zuzutrauen sind. Zumindest dachte ich, Kinder könnten dahinterstecken, bis ich gesehen habe, wie die Heiligen Drei Könige zugerichtet waren. Jackson ist auf den Hauptplatz gekommen, um sich den Schaden anzusehen, und er hat gesagt, dieser Anblick erinnerte ihn an seinen Alptraum.«

Kate schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es gewinnt zunehmend an Kraft und stellt sein Können auf die Probe. Mir kommt das gar nicht kindisch vor. Es hat Kränze benutzt, ein Symbol, das oft mit Weihnachten in Verbindung gebracht wird. Und jetzt zerstört es Geschenke. Elle hat gesagt, die Symbole spielten eine Rolle. Geschenke sind offensichtlich ein weiteres Symbol für Weihnachten.« Sie seufzte und rieb sich die Schläfen. »Offenbar kann dieses Ding Weihnachten nicht ausstehen. Habt ihr eine Ahnung, warum?«

»Ich habe keinen Schimmer«, sagte Matt. Er benutzte seinen Körper dazu, sie behutsam weiter ins Zimmer zurückzudrängen, denn er wollte die Türen vollständig gegen den Nebel verschließen.

Kate drehte sich in seinen Armen um und schmiegte ihren Körper dicht an seinen, um dort Kraft und Trost zu finden. »Meine Schwestern warten bereits. Sogar Libby. Es ist nicht leicht, eine Energieverbindung über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten.«

Matts Arme schlossen sich enger um sie. Er hielt sie gefangen, um ihr Sicherheit zu geben. Er begrub sein Gesicht an ihrem Hals. »Das alles ist mir ein Gräuel, Kate. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie sehr ich mir wünsche, dich so weit wie möglich von diesem Ort fortzubringen. Ich weiß, dass du in Gefahr bist.«

»Wenn ich das nicht tue, Matthew, dann wird sich eine meiner Schwestern daran versuchen und keine von ihnen hat meine Stimme.« Sie drückte ihn fest an sich und löste sich dann langsam von ihm.

Matt ließ zu, dass sie sich ihm entzog, doch er hatte entsetzliche Angst um sie, als sie auf die Veranda hinaustrat. Er stellte sich neben sie. Dicht neben sie, um sie zu beschützen. Er forderte das Ding heraus, sich erst ihn vorzuknöpfen, ehe es sich an sie heranmachte. Jonas bezog seinen Posten auf ihrer anderen Seite. Kate schloss die Augen und hob ihr Gesicht zum Himmel.

Eine Brise kam vom Meer und umspielte ihr Gesicht. Diese Berührung erfrischte sie. Sie fühlte die Nähe ihrer Schwestern, die sich zusammengetan hatten. Alle sieben waren miteinander vereint, wenn auch räumlich voneinander getrennt. Kraft floss in sie hinein, durch sie hindurch. Sie hob die Arme und wusste, dass Hannah auf der Aussichtsplattform ihres Elternhauses stand und gleichzeitig dieselbe Geste vollführte.

Matt hörte das Stöhnen des Windes. Draußen auf dem Meer hoben sich die Wellenkämme und weiße Schaumkronen sprühten. Der Nebel geriet außer Rand und Band. Er sprudelte und wirbelte herum wie verrückt und schlang sich so eng um Kate, dass Matt sie einen Moment lang aus den Augen verlor. Er streckte blind die Arme aus, griff instinktiv nach ihr und riss sie schützend an seinen Körper. »Das ist totaler Blödsinn, Kate.« Er presste ihr Gesicht an seine Brust und schlang seine Arme um ihren Kopf, damit der Nebel nicht an sie herankam.

Kate wehrte sich nicht. Sie ließ mit keinem Anzeichen erkennen, dass sie wahrnahm, was er tat. Ihre Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern, und doch trug der Wind sie in die Nebelbank und sie brachte den Dunst zum Wallen und nahm dort ein Eigenleben an. Kate blieb weiterhin an ihn gepresst, mit geschlossenen Augen, doch ihr Gesang setzte sich fort, eine Gabe, die Harmonie und Frieden schenkte, Wohlbefinden und Solidarität. Sie beschwor die Elemente der Erde. Das konnte Matt deutlich hören.

Stimmen erhoben sich im Wind. Meerwasser wölbte sich dem Singsang entgegen, Wellen türmten sich hoch, durchbrachen die Nebelbank und spalteten sie draußen über dem Meer in dünne Dunstfetzen auf. Der Wind heulte, gewann an Kraft, strömte ihnen entgegen, brachte den Geschmack von Salz und kleine Wassertröpfchen mit, die ihre Gesichter benetzten. Donnerschläge ließen die Veranda beben. Die Stimmen setzten ihren Gesang weiterhin fort und der Sturm braute sich zusammen.

»Hannah.« Jonas sagte leise ihren Namen, als selbst ihm die unbändige Kraft, die von den Schwestern gemeinsam ins Leben gerufen und beherrscht wurde, eine Spur von Ehrfurcht einflößte.

Kate holte tief Atem und ließ los. Sie löste sich von ihren Schwestern, von ihrem Körper und von der Welt der Lebenden, um die Schattenwelt zu betreten. Aus weiter Ferne hörte sie das Echo von Hannahs ängstlichem Ruf. Die Welt war nicht so stumm, wie man erwartet hätte. Daran hatte sie sich nie gewöhnen können. Geräusche waren zu hören, Stöhnen und Schreie, nicht ganz menschlich und nicht identifizierbar. Atmosphärische Störungen, wie das Rauschen eines Radiosenders, der nicht korrekt eingestellt ist. Und das grässliche Heulen des Windes, der unablässig wehte. Es war kalt dort, trostlos und öd. Eine Welt voller Dunkelheit und Verzweiflung. Sie sah sich sorgfältig um und versuchte denjenigen zu finden, den sie suchte.

Sie war nicht allein. Sie konnte fühlen, dass sie von anderen beobachtet wurde. Manche waren einfach nur neugierig, andere regelrecht feindselig. Keiner war ihr freundlich gesonnen, denn sie war ein lebendiges Wesen und die anderen gab es schon lange nicht mehr. Etwas schlitterte dicht vor ihren Füßen vorüber. Sie konnte spüren, dass etwas Schleimiges ihren Arm streifte. Kate holte erneut Atem und rief leise. Im nächsten Moment sah sie es. Ein grauenhafter Anblick. Groß mit nackten weißen Knochen und einem gespenstischen Schädel, der einen weit aufgesperrten Mund und leere Augenhöhlen hatte. Es hatte noch nicht vollständig Gestalt angenommen. In der Brusthöhle klaffte ein riesiges Loch. Die Rippen fehlten. Es kam mit langen Schritten auf sie zu und ihr fiel auf, dass das Skelett altmodische Stiefel trug. Vielleicht hätte sie gelacht, wenn es nicht ganz so beängstigend gewesen wäre. Die Knochen klapperten, als es mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit auf sie zu eilte.

»Kate!« Abigails Schrei trug den Widerhall der Rufe von Hannah und Sarah.

Kate hob eine Hand, um das Ding abzuwehren, als es sie erreicht hatte.

Matt spürte, wie Kates Energie die Luft um sie herum knistern ließ, eine immense Kraft, die keinen Moment ins Wanken geriet, und doch bebte ihr schlanker Körper vor Anstrengung oder vielleicht auch vor Furcht und drohte unter der Belastung zusammenzubrechen. Ohne jede Vorwarnung spürte er, wie sich jedes Haar auf seinem Körper aufstellte. Kate wurde leichenblass. Da er Angst um sie hatte, hob er sie rasch auf seine Arme und schmiegte sie an seine Brust, denn das war das Einzige, was er tun konnte, um sie gegen den Ansturm des Windes und vor dem bedrohlichen Nebel zu schützen.

Kate entwand sich mühsam der Schattenwelt, schlug die Augen auf und rechnete damit, Matt zu sehen. Leere Augenhöhlen blickten sie an. Der Mund des Schädels klaffte weit auf, die Kiefer waren lose und knochige Finger schlangen sich um ihre Kehle. Sie schrie auf und riss sich los, versuchte fortzulaufen, obgleich es keinen Ort gab, an den sie fliehen konnte. Der Druck auf ihre Kehle nahm zu. Sie war kurz davor zu ersticken.

Der Wind schwoll zu einem Heulen an. Die weiblichen Stimmen klangen jetzt gebieterisch. Die knochigen Finger glitten von Kates Kehle. Sie fiel auf den Boden und sah voller Entsetzen zu, wie die Stimmen der Drake-Frauen das Skelett zwangen, sich mit schleppenden Schritten langsam von ihr zu entfernen. Die gnadenlosen leeren Augenhöhlen starrten sie voller Heimtücke an. Kate versuchte auf allen vieren in die entgegengesetzte Richtung zu huschen, denn ihr wurde übel, als die Wesenheit mit ihren weißen Knochen klapperte, um schaurige Vergeltung zu geloben.

Der Wind wirbelte Sand in die Luft auf und verschleierte Kates Sicht. Sie kniff die Augen gegen diesen neuerlichen Ansturm fest zusammen. Sofort fühlte sie, dass Matts Körper dicht an ihren geschmiegt war. Da sie Angst hatte hinzusehen, hielt sie die Hände zu ihrem Schutz vor sich, während sie die Lider hob. Sie sah Matts tröstliches Gesicht, dessen Linien und Konturen ihr inzwischen so vertraut waren. Sie schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals und fühlte, wie die Wärme seines Körpers einen Teil der eisigen Kälte aus ihr heraussog.

Der Nebel kroch langsam und geradezu missmutig wieder in Richtung Meer, zog sich mit sichtlichem Widerwillen vom Haus und der Veranda an den Strand zurück. Mit Kate in seinen Armen starrte Matt voller Entsetzen den nassen Sand an. Fußabdrücke waren deutlich zu erkennen, als hätte sich jemand mit kurzen, schleppenden Schritten rückwärts in Richtung Meer bewegt. Die Abdrücke stammten von den Stiefeln eines Mannes, Stiefeln mit abgetretenen Absätzen. Matt blickte von den Abdrücken im Sand auf und sah Jonas an. »Womit zum Teufel haben wir es hier zu tun?«

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